Die Erweiterung des rationalen Weltbildes
Der Verstand reduziert die Realität auf das, was er kontrollieren kann und erschafft so die Illusion, dass das gesamte Universum rein rational kontrollierbar sei. Dem entspricht die Verabsolutierung der Wissenschaft zum einzigen nötigen, einzig legitimen, weil allumfassenden Erkenntnisprinzip. Die letzten Kapitel haben sich mit der Auflösung dieser Illusionen befasst:
- Weil über die Sinneswahrnehmung die Materie mit ihrem elementaren Verhalten so eindeutig, vorzeigbar und mit extrem hohem Nutzen (Technologie) erfasst werden kann, sieht der Verstand die innerpsychische Wahrnehmung, die aus rationaler Sicht keinen solchen Nutzen bietet, als irrelevant an oder ignoriert ihre Existenz komplett ("unwissenschaftlich").
- Da die Verhaltenskontrolle des Verstandes auf Gesetzmäßigkeiten basiert, wird alles nicht-gesetzmäßige als Zufall und damit per se als unkontrollierbar angesehen.
- Die Gesetzmäßigkeiten super komplexer Systeme werden in ihrer Anwendung nicht von den Naturgesetzen unterschieden, obwohl beides völlig unterschiedlich gehandhabt werden müsste.
- Absichtliches Verhalten wird nicht von gesetzmäßigem Verhalten unterschieden (Evolutionstheorie). Darauf baut die Illusion auf, das Leben hätte allein aus Materie und Gesetzmäßigkeiten entstehen können.
- Die Übersetzung von Ratio mit Vernunft suggeriert, alle nicht rationale Verhaltenseinflüsse seien unvernünftig und müssten durch rationale Kontrolle ersetzt werden.
- Indem der Verstand sich einbildet, seine Modelle könnten auf eine absolute Weise richtig oder falsch sein, übersieht er ihre Realitivität und damit auch ihre Manipulierbarkeit, welche die Grundlage für seine Illusionsbildung liefert. Rationalität kann sich selbst nicht kontrollieren. Sie taugt nicht als alleiniges Wahrheitskriterium bzw. Erkenntnisprinzip.
- Der Verstand manipuliert sein rationales Modell unbewusst, indem er Teile der Wahrnehmung ausblendet, Zusammenhänge nicht herstellt und notwendige Unterscheidungen nicht trifft.
- Der Verstand schiebt das Scheitern rationaler Strategien menschlicher Unfähigkeit oder Unwilligkeit in die Schuhe, seine rationalen Strategien richtig umzusetzen, anstatt sich einzugestehen, dass diese Strategien in der Praxis einfach nicht funktionieren.
- Wesentliche Grundbegriffe, die permanent in Gebrauch sind, werden nicht klar definiert. Auf diese Weise vermeidet es der Verstand zu sehen, dass die wesentlichen Grundlagen seines Weltbildes weitestgehend ungeklärt sind.
- Fundamentale Teile des rationalen Weltbilds führen eine Art Schattendasein im Unterbewusstsein und werden so nie bewusst angeschaut und hinterfragt.
Die Illusionsbildung erfolgt unbewusst. Der Verstand baut sein Weltbild unbewusst so auf, dass eine Konfrontation mit seiner Begrenztheit vermieden wird. Dabei gibt er einen Teil der Realität für das Ganze aus. Das heißt, er nimmt einen Teil der Realität gar nicht als existent wahr und hat auch dementsprechend kein Modell dafür. Die Auflösung der Illusionen befreit das rationale Weltbild von seinen falschen Teilen und reduziert es auf den Teil, der stimmt und funktioniert. Auf dieser Grundlage können dann die fehlenden Teile des rationalen Weltbildes neu aufgebaut werden.
Materie und ihre Gesetzmäßigkeiten bilden den funktionierenden Teil des rationalen Weltbildes. Was fehlt, ist
- einerseits das Fundament, die Bewusstmachung der Grundideen, die klare Definition von Grundbegriffen
- und andererseits die Grundlage das Lebens: Was treibt das Verhalten der Lebewesen an? Wo kommt das Leben her?
Aus Sicht der Wissenschaft ist Religion nichts weiter als ein völlig überholtes Weltbild, das durch die Wissenschaft abgelöst wurde. Tatsächlich aber beschreibt die Religion genau den Teil der Realität, der durch die Wissenschaft gar nicht erfasst wird. Das Problem ist nur, dass die symbolhafte, mystifizierende Darstellung der Religion dem heutigen extrem versachlichten Verstand in ihrer tatsächlichen Bedeutung nicht mehr zugänglich ist.
Der folgende Teil dieses Textes widmet sich nun dem Aufbau des fehlenden Teils des Weltbildes und klärt dabei auch schrittweise die involvierten Grundbegriffe. Dabei geht es nicht nur um den fehlenden Teil an sich, sondern viel mehr noch um die Zusammenhänge zwischen den beiden Teilen. Die Wissenschaft betrachtet immer nur das, was vor ihrer Nase ist. Sie betrachtet nie die Interaktion dessen, was wahrnimmt mit dem Wahrgenommenen.
Um diesen Teil der Realität zu erfassen, muss die inner-psychische Wahrnehmung als Datenquelle in die Modellbildung mit einbezogen werden. Das Innere der Psyche ist wie eine Landschaft mit Elementen, mit denen man über sein Verhalten interagieren kann - ganz ähnlich der äußeren Landschaft, nur dass es sich um nicht-materielle Elemente handelt. Interaktionen mit inner-psychischen Elementen finden die ganze Zeit statt, aber unbewusst und außerhalb des rationalen Weltbildes. Deshalb bringen sie viel zu oft negative Resultate hervor.
All die rationale Modellbildung ist aber kein Selbstzweck. Sie dient dem Ziel, den vom Verstand im Laufe seiner Entwicklung unterdrückten nicht-rationalen Teile der Psyche zu reaktivieren und mit dem rationalen Verstand zu vereinen. Auf diese Weise entwickelt die Psyche Möglichkeiten, die aus rationaler Sicht geradezu unvorstellbar erscheinen.